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Vier Thesen zur "ganzheitlichen Bildung"

"Die Bildung setzt die Bereitschaft des Einzelnen voraus, sich mit nutzlosem Wissen füttern zu lassen, mit überflüssigem Kram, dessen Sinn sich nicht schon beim nächsten Bewerbungsgespräch, sondern irgendwann später, vielleicht nie erschließt.“ (Die Zeit, 01/2001)

1.) Die Ganzheitlichkeit der Bildung wird auch deshalb gefordert, weil die gegenwärtigen Konzepte, Organisationsformen, Ziele und Wirkungen der Bildung und die mir ihr verbundenen Interessen viele Gegensätzlichkeiten aufweisen. Dabei geht es nicht nur um reformpädagogische Fragen und Antworten, die sich im Gegensatz zur Praxis der gegliederten „Paukschulen“ und ihrer Chancenungleichheit herausgebildet haben. Es geht auch – immer wieder aufs Neue – um gesellschaftliche und individuelle Emanzipation, die sich gegen Widerstände erstarrter Herrschaft durchsetzen muss. Ganzheitliche Bildung ist aber nur eine notwendige, und nicht hinreichende Voraussetzung für Emanzipation und Chancengleichheit, die man als Querschnittsaufgabe für alle Bereiche in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft begreifen kann (Ganzheitlichkeit der Emanzipation).

2.) Emanzipation durch ganzheitliche Bildung kann im globalen Kapitalismus nicht mehr jeweils national stattfinden. Was bliebe von der Ganzheitlichkeit der Bildung, wenn sie letztendlich dem Ziel des „Bestehens im globalen Wettbewerb“ untergeordnet wäre? Anstatt eine solidarische Weltgemeinschaft vor sich zu sehen, malt man den jeweils nationalen Untergang auf dem globalen Weltmarkt an die Wand. Vom "Volk ohne Raum", über das "Volk ohne Rohstoffe" zum "Volk ohne Bildung"? Dieser nationale Blickwinkel verknüpft – übrigens nicht nur in Deutschland – auf der ideologischen Ebene Überlegenheitserwartungen mit Minderwertigkeitsgefühlen und Vernichtungsängsten, die einem Klima der Emanzipation entgegenstehen.

3.) Die Ächtung von Privilegien führte zum Demokratie- und Meritokratie-Gebot auf der Grundlage von Chancengleichheit, die – falls im Zuge historischer Entwicklungen noch nicht in allen Bereichen verwirklicht – durch ausgleichende Fördermaßnahmen (affirmative action) herzustellen ist. Tatsächlich sind viele Bereiche der Gesellschaft und der Bildung aber so angelegt, dass Privilegierte stärker gefördert werden als Benachteiligte (affirmative action for the rich). Damit wird Chancenungleichheit aktuell „sozial vererbt“ und sogar verstärkt. In diesem Rahmen wird die gesellschaftliche Bedeutung der „individuellen Förderung“ im Zusammenhang mit ganzheitlicher Bildung sichtbar, die in Deutschland in Anlehnung an den vermeintlichen Grundsatz der „Arbeitsförderung“ unter dem Motto „Fördern und Fordern“ steht. „Fördern und Fordern“ drückt nicht nur aus, dass es für Bedürftige und Benachteiligte keine Rechten ohne Pflichten geben sollte, sondern auch, dass die Ressourcen für die „individuelle Förderung“ gleichermaßen auf Privilegierte und Benachteiligte aufgeteilt werden sollten, mithin in ihrer ausgleichenden Wirkung wirkungslos bleiben werden, falls diese Ressourcen zu knapp bemessen sind.

4.) Ganzheitliche Bildung als pädagogisches Konzept findet in einem Bildungssystem statt, in das (wie in andere Bereiche bislang öffentlicher Daseinsvorsorge) zunehmend privates Kapital mit privaten Gewinnerwartungen investieren will. Dagegen steht der Grundsatz, Bildung ist ein Menschenrecht, und keine Ware. In vielen internationalen Menschenrechtsdokumenten wird nicht nur die Unentgeltlichkeit und die Chancengleichheit im Bildungsbereich verbindlich als internationales Ziel vereinbart, sondern mit dem „Menschenrecht auf Entwicklung“ u.a. auch der Rahmen ganzheitlicher Bildung erweitert. Menschenrechte, Menschenrechtsbildung und insbesondere das Menschen- und Kinderrecht auf Bildung und Entwicklung könnten sich künftig als gemeinsame Grundlage einer neuen sozialen Bewegung gegen Bildungsprivatisierung und Chancenungleichheit erweisen.


Quellen zum Recht auf Bildung und Entwicklung als Menschen- und Kinderrecht

UN-Kinderrechtskonvention, 20.11.1989

"Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989 (für Deutschland in Kraft getreten am 05.04.1992 (BGBl. II S. 990)

Artikel 29 [Bildungsziele]

(1) Die Vertragsstaaten stimmen darin überein, dass die Bildung des Kindes darauf gerichtet sein muss,

a) die Persönlichkeit, die Begabung und die geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes voll zur Entfaltung zu bringen;

b) dem Kind Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten und den in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Grundsätzen zu vermitteln;

c) dem Kind Achtung vor seinen Eltern, seiner kulturellen Identität, seiner Sprache und seinen kulturellen Werten, den nationalen Werten des Landes, in dem es lebt, und gegebenenfalls des Landes, aus dem es stammt, sowie vor anderen Kulturen als der eigenen zu vermitteln;

d) das Kind auf ein verantwortungsbewusstes Leben in einer freien Gesellschaft im Geist der Verständigung, des Friedens, der Toleranz, der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Freundschaft zwischen allen Völkern und ethnischen, nationalen und religiösen Gruppen sowie zu Ureinwohnern vorzubereiten;

e) dem Kind Achtung vor der natürlichen Umwelt zu vermitteln. (...)“

UN-Deklaration zum Recht auf Entwicklung, 04.12.1986

“(...) in Anerkennung, dass Entwicklung ein umfassender wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und politischer Prozess ist, der darauf abzielt, das Wohlergehen der gesamten Bevölkerung und aller ihrer Individuen ständig zu verbessern, und zwar auf der Grundlage ihrer aktiven, freien und wirksamen Teilhabe an der Entwicklung und an der fairen Verteilung der Nutzen die daraus entstehen (...) angesichts dessen, dass alle Menschenrechte und Grundfreiheiten unteilbar sind und sich gegenseitig bedingen (...) feststellend, dass das Recht auf Entwicklung ein unveräußerliches Menschenrecht ist, und dass Chancengleichheit in der Entwicklung ein Vorrecht sowohl für Nationen als auch für Individuen ist (...)

Artikel 1

1. Das Recht auf Entwicklung ist ein unveräußerliches Menschenrecht kraft dessen jeder Mensch und alle Völker berechtigt sind, teilzunehmen an, beizutragen zu und Nutzen zu haben an der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Entwicklung, in der alle Menschenrechte und Grundfreiheiten vollständig verwirklicht werden können (...)“


www.uri-text.de | Oldenburg (Oldb) | 2007-11-28